Nibelungenlied und Tristan: Die Infragestellung des höfischen Modells

Nibelungenlied und Tristan: Die Infragestellung des höfischen Modells
Nibelungenlied und Tristan: Die Infragestellung des höfischen Modells
 
Die Romane Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach, die die literaturgeschichtliche Idee einer »Höfischen Klassik« wesentlich mitprägten, entstanden in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und politischer Wirren, welche 1198 mit der Doppelkrönung des Staufers Philipp von Schwaben und des Welfen Otto IV. von Braunschweig ihren Höhepunkt erreicht hatten. Könnte man die Artus- und Gralsdichtung als Versuch werten, die als chaotisch erfahrene Realität durch einen »utopischen« Gegenentwurf ethisch und ästhetisch zu bewältigen, so schienen andere zeitgenössische Werke dieses optimistische Modell, das auf Ausgleich der Gegensätze zwischen geistlicher und weltlicher Macht sowie zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen abzielte, unterlaufen zu wollen.
 
Das in den Jahren um 1200 wahrscheinlich am Hof des Passauer Bischofs Wolfger von Erla entstandene »Nibelungenlied« wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein Fremdkörper in der von französischen Vorbildern bestimmten Literatur seiner Zeit. Es greift einen einheimischen, heroischen Stoff auf, der - wenn auch nur vage - in der Geschichte verankert und in einer einigermaßen nachvollziehbaren Geographie angesiedelt ist. Ein für das Epos typischer anonymer Verfasser, der sich auf »alte Maeren« beruft, erzählt von Ereignissen, die nicht auf ein »Happy End«, sondern auf den Untergang der Protagonisten hinauslaufen: Im Mittelpunkt steht Kriemhild, die unter der Vormundschaft ihrer Brüder Gunther, Gernot und Giselher am burgundischen Königshof in Worms lebt und die der für sie mit Leid verbundenen Minne abgeschworen hat. Ihre Einstellung ändert sich, als der draufgängerische Xantener Königssohn Siegfried in Worms eintrifft, dessen Jugendtaten, der Drachenkampf, die Gewinnung des Nibelungenschatzes und damit der Besitz des Schwerts »Balmunc« und der Tarnkappe, fast beiläufig von Hagen, dem obersten Vasallen der Wormser Könige, berichtet werden. Der um Kriemhild werbende Held Siegfried hilft Gunther, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattete Brünhild zu erringen, besiegelt aber gleichsam sein Todesurteil, als er unter dem Schutz der Tarnkappe Brünhild Ring und Gürtel raubt.
 
Dreizehn Jahre nach dem Tod Siegfrieds sieht die trauernde Kriemhild eine Chance zur Rache gekommen, als sie in die Brautwerbung des Hunnenkönigs Etzel einwilligt. Es dauert aber noch weitere sieben Jahre, bis sie ihre burgundische Verwandtschaft zum Besuch einladen kann. Trotz verschiedener Warnungen ziehen die »Nibelungen« genannten Wormser donauabwärts zur Residenz Etzels, wobei einzelne Episoden wie die Hochzeit Giselhers mit der Tochter Rüdigers von Bechelaren heitere Akzente setzen und die Handlung auf die Schlusskatastrophe hin steigern. Diese nimmt mit den exemplarischen Zweikämpfen der Helden fast ein Drittel des Epos ein und lässt nur Etzel, Dietrich und Hildebrand als Überlebende zurück.
 
In der Forschung herrscht heute soweit Übereinstimmung, dass der unbekannte Nibelungendichter mit der Literarisierung der mündlich bereits präsenten, heroischen Erzählungen einerseits einem Publikumsinteresse entgegenkommen, andererseits mit der Wahl dieses Stoffes vielleicht auch ein Unbehagen an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen der Zeit artikulieren wollte. Anknüpfungspunkte dafür bieten der eher passive König Gunther, in dem sich das durch die Auseinandersetzungen zwischen Staufern und Welfen geschwächte Königtum zu spiegeln scheint oder das an der Person Rüdigers von Bechelaren vorgeführte Dilemma der feudalen Mehrfachbindung - er war Gunther und Etzel verpflichtet. Weiterhin kann die als Täuschungsmanöver gedachte Unterwerfungsgeste Siegfrieds gegenüber Gunther bei der Brautwerbung in Isenstein angeführt werden, welche von Brünhild als Zeichen einer tatsächlichen Abhängigkeit interpretiert wird und damit indirekt den Rangstreit der Königinnen und die spätere Katastrophe auslöst. Ob hier »Urängste« des Altadels gegenüber der aufstrebenden Ministerialität zum Ausdruck kamen, mag dahingestellt bleiben. In zwei anderen Dichtungen, dem Tierepos »Reinhart Fuchs« aus dem 12. Jahrhundert und der parabelartigen Erzählung »Helmbrecht« (um 1250) wird aber auf drastische Weise dokumentiert, wie bestimmte Adelskreise den de facto auch im Mittelalter möglichen sozialen Aufstieg als Verstoß gegen die göttliche Ordnung deuteten.
 
Auch die Minne, ansonsten Triebfeder der ritterlichen Selbstverwirklichung und Bewährung, konnte zur ernsthaften Bedrohung für die höfische Ordnung werden, wie vor allem der keltische Tristan-Stoff zeigt. Die Erzählung von der durch einen Minnetrank ausgelösten Liebe zwischen Tristan und Isolde, den fortgesetzten Täuschungsmanövern gegenüber dem Onkel beziehungsweise Gemahl König Marke, der Verbannung, Trennung und endgültigen Vereinigung der Liebenden im gemeinsamen Tod war bereits um 1170 von dem aus der Nähe von Braunschweig stammenden Eilhart von Oberg in deutsche Verse gebracht worden; im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts schuf dann Gottfried von Straßburg seinen unvollendet gebliebenen Tristan-Roman, der gemeinsam mit dem »Nibelungenlied« und Wolframs »Parzival« zweifellos als Höhepunkt der »Mittelhochdeutschen Klassik« angesehen werden kann.
 
Die Einzigartigkeit dieses Werks liegt nicht nur in der kunstvollen sprachlichen Gestaltung, sondern auch im Stoff selbst und seiner spezifischen Deutung durch den Dichter. Tristan ist zwar wie Gawan, Lanzelot oder Siegfried ein vollkommener Ritter, doch spielen seine kämpferischen Qualitäten eine geringere Rolle als seine höfische Bildung und künstlerischen Fertigkeiten; sein Lebensgang ist schon durch tragische Umstände seiner Geburt vorbestimmt und läuft schicksalhaft auf die Begegnung und Verbindung mit Isolde zu. Ebenso wie in Wolframs »Parzival« das Artusrittertum nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Gral ist, so führt in Gottfrieds Roman dieser Weg aus der »niederen« Welt des Hofes in die »höhere« Welt der absoluten Minne, die sich nur außerhalb der Gesellschaft realisieren lässt: Während die Protagonisten Hartmanns und Wolframs, aber auch das Liebespaar in Eilharts Tristandichtung ihr Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft noch als tiefe Krise empfinden, gestaltet Gottfried das Leben Tristans und Isoldes in der Verbannung als Moment höchsten Glücks. Er verklärt die Idylle der »Minnegrotte« mit einem allegorischen Vokabular, das an die geistliche Auslegung des Hoheliedes erinnert beziehungsweise schon die Sprache der Mystik vorwegnimmt. Dass diese religiöse Überformung und Ästhetisierung des »unheiligen Geschehens« schon bei den Zeitgenossen auf Widerspruch stieß, zeigt sich zum einen darin, dass sich Gottfried im Prolog ausdrücklich an ein verständnisvolles, exklusives Publikum von »edelen Herzen« wendet, zum anderen darin, dass Gottfrieds Fortsetzer und Nachfolger an die »unproblematischere« Version des Eilhart von Oberg anknüpften, die zudem die Erzählung zu Ende führte.
 
Dr. Bernd Steinbauer
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearbeitet von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 21984.

Universal-Lexikon. 2012.

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